Koordiniert durch den aktuellen Vorsitzenden Professor Eckstein haben die Mitglieder der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Kraftfahrzeug- und Motorentechnik (WKM) elf Fakten, Thesen und Prognosen zur Elektromobilität formuliert.
Die Nationale Plattform Elektromobilität (NPE) hat der Bundesregierung am 20. Juni 2012 ihren jüngsten Fortschrittsbericht übergeben, der das Ziel der Bundesregierung, Deutschland bis zum Jahr 2020 als Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu etablieren, analysiert. Am 1. Oktober findet zum dritten Mal auf Einladung der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel das Spitzengespräch zur Elektromobilität in Berlin statt, in welchem Lutz Eckstein, Leiter des Instituts für Kraftfahrzeuge der RWTH Aachen, die Fahrzeugtechnik aus der Forschungsperspektive vertritt.
Die Professoren sind sich einig, dass die komplexen Herausforderungen und Anforderungen an die Mobilität der Zukunft eine systematische evolutionäre Optimierung aller Fahrzeugklassen erfordern, um sowohl die Fahrwiderstände zu reduzieren als auch die Effizienz der Antriebe signifikant zu steigern. Diese Optimierung muss sowohl der Forderung nach Nachhaltigkeit als auch nach Kosteneffizienz Rechnung tragen – aus der Perspektive der Nutzer, der Unternehmen sowie der Gesellschaft. Parallel müssen – stärker als bisher – revolutionäre Szenarien entwickelt und bewertet werden, die in anderen Wirtschaftsräumen eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit haben.
Dies erfordert ein konzertiertes Zusammenspiel aller relevanten Akteure aus Industrie, Politik und Wissenschaft, untermauert durch eine fundierte Forschung und Entwicklung.
Auf Grundlage dieses Konsenses hat die WKM folgende 11 Fakten, Thesen & Prognosen formuliert:
1. Die Mobilität von Personen und Gütern wird weltweit weiter zunehmen.
Während die Personenverkehrsleistung in Europa bis zum Jahr 2030 leicht anwachsen wird, ist in Deutschland aufgrund der rückläufigen Gesamtbevölkerung und der steigenden Energiekosten tendenziell mit einem leichten Rückgang zu rechnen. Die Gütertransportleistung wird in der EU-15 bis 2030 einen Zuwachs von über 50 % bei nahezu konstanter Modalitätsverteilung erfahren.
2. In Ballungszenten und „Megacities“ wird der motorisierte Individualverkehr vielfältiger und zunehmend mit dem ÖPNV vernetzt.
Auch in Zukunft ist der Wunsch nach individueller Mobilität in Ballungszentren weiterhin gegeben. Konventionelle Personenkraftwagen der Kategorie M1 werden aufgrund des limitierten Parkraumangebots und vielerorts überlasteter Verkehrsflächen zunehmend durch andere Verkehrsmittel wie Zweiräder und Kleinstfahrzeuge (z.B. L7e) ergänzt. Der Anteil des öffentlichen Personenverkehrs wird im Stadtkern aufgrund der begrenzten Wirtschaftlichkeit von derzeit 15 % nur wenig auf ca. 20 – 25 Prozent zunehmen. Ergänzt wird das Angebot um Car Sharing Konzepte und das Taxi, welches ebenfalls weiteres Potential besitzt.
3. Pedelecs und E-Bikes werden in den kommenden Jahren weiterhin zweistellige Zuwachsraten haben.
Pedelecs und E-Bikes werden in den kommenden Jahren weiterhin zweistellige Zuwachsraten pro Jahr haben, da diese als „Zweitfahrzeug“ bezahlbar sind, eine geringe Verkehrs- bzw. Abstellfläche beanspruchen, an der heimischen Steckdose ladbar und für viele Strecken geeignet sind. Im Jahr 2008 wurden ca. 100.000 Pedelecs verkauft, 2009 waren es 150.000 und nach 200.000 in 2010 wurden 2011 über 300.000 Fahrräder mit elektrischem Hilfsantrieb verkauft. Läge die Zuwachsrate des jährlichen Verkaufs 2012 bei 25 %, würden Ende des Jahres in Deutschland bereits mehr als 1 Million Pedelecs existieren – in China sind es bereits mehr als 120 Mio. Stück.
4. Rein elektrisch angetriebene Fahrzeuge spielen zunächst nur als Zweit- bzw. Drittwagen eine Rolle.
Reine Elektrofahrzeuge sind selbst bei einer Reichweite von 150 km aufgrund der hohen Batteriekosten sowohl für Privatkunden als auch für gewerbliche Kunden finanziell nicht attraktiv, da der Gesamtkosten-Nachteil (TCO) bei vierjähriger Nutzung zwischen 5.000 und 11.000 Euro beträgt. Obwohl mehr als ein Viertel aller Haushalte ein zweites Auto besitzt, ist das Substitutionspotential aufgrund einer Zweitwagen-Laufleistung von durchschnittlich ca. 13.000 km/a sowie den bis zu 100 % höheren Anschaffungskosten im Vergleich zu einem vergleichbaren konventionell angetriebenen Kraftfahrzeug begrenzt.
Eine neue und kostengünstigere Alternative könnten Kleinstfahrzeuge der Klasse L7e spielen, die weitaus geringere gesetzliche Anforderungen erfüllen müssen als konventionelle Pkw der Klasse M1. Um neben der Effizienz ein hinreichendes Maß an Sicherheit zu gewährleisten, muss das Sicherheitspotential integrierter Ansätze für diese Klasse erforscht werden, welche von der Information über die Warnung bis hin zur Auslösung von Sicherheitssystemen reichen.
5. Die überwiegende Mehrzahl aller Pkw und Nfz wird auf absehbare Zeit über einen Verbrennungsmotor verfügen – immer häufiger als Teil eines hybriden Antriebsystems.
Verbrennungsmotoren stellen nicht nur mechanische Antriebsleistung, sondern auch thermische Nutzwärme zur Verfügung und ermöglichen einen effizienten Transport großer Energiemengen. Bei Elektrofahrzeugen stellen sie als Antrieb eines Range-Extenders eine elegante Lösung des Widerspruchs zwischen gewünschter Reichweite und tatsächlichen täglichen Fahrtstrecken dar. Die bedarfsorientierte Dimensionierung der Batterie spart Kosten, Bauraum und Gewicht, der Range-Extender sorgt für potentiell benötigte Reichweite und Wärme.
Die Verbesserung des Gesamtwirkungsgrads des Kraftfahrzeugs einschließlich der Klimatisierung des Innenraums stellt einen wichtigen Erfolgsfaktor sowie ein komplexes Forschungs- und Innovationsfeld dar. Damit werden 2030 nicht nur Micro-, Mild- und Plug-in Hybride über eine Verbrennungskraftmaschine verfügen, sondern auch die Mehrzahl aller Elektrofahrzeuge.
Kraftstoffe werden zunehmend regenerativ hergestellt, langfristig z.B. aus solar erzeugtem Wasserstoff, welcher zu leicht transportierbarem Methan oder Ethanol weiterverarbeitet wird. Auch hinsichtlich der Kraftstoffgewinnung aus biogenen Reststoffen besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.
6. Die Attraktivität des elektrischen Fahrens hängt maßgeblich vom Angebot konkreter Nutzungsvorteile ab.
Die Attraktivität des elektrischen Fahrens hängt maßgeblich vom Angebot konkreter Nutzungsvorteile ab. Diese können z.B. in der kostenlosen Nutzung von Parkplätzen, Nutzung von Busspuren oder der Einfahrt in zufahrtsbeschränkte Zonen liegen. Rein finanzielle Anreize sind nicht ausreichend, da die Total Cost of Ownership (TCO) eines elektrisch angetriebenen Personenkraftwagen heute bei vierjähriger Nutzungsdauer ca. 11.000 Euro über denjenigen eines konventionell angetriebenen vergleichbaren Fahrzeug liegen, und erst 2020 auf ca. 5.000 Euro sinken werden. Deshalb sind geeignete verkehrspolitische Maßnahmen zu definieren, die zunächst auf begrenztem Raum unter wissenschaftlicher Begleitung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, Akzeptanz und Umsetzbarkeit bewertet werden sollten.
7. Insbesondere Plug-in Hybride und Elektrofahrzeuge mit Range-Extender haben ein großes Potential.
Mit der Einführung von konkreten Vorteilen des elektrischen Fahrens wird sich insbesondere der Anteil der Plug-in Hybride (PH-EV) sowie von E-Fahrzeugen mit Range Extender (RE-EV) signifikant erhöhen, da diese Antriebskonzepte sowohl ein elektrisches Fahren über ca. 20 – 90 km ermöglichen als auch das Zurücklegen weiterer Distanzen gewährleisten. Damit können sie ein heutiges konventionell angetriebenes Kraftfahrzeug prinzipiell ersetzen. Elektrofahrzeuge mit Range-Extender verfügen typischerweise über eine größere Batteriekapazität als Plug-in Hybride, um überwiegend elektrisch bewegt werden zu können. Beide Konzepte bieten ein hohes Effizienzpotential, das es durch interdisziplinäre Forschung und Entwicklung zu heben gilt.
8. Brennstoffzellen-Fahrzeuge spielen erst ab 2030 in Bezug auf die Stückzahlen eine merkbare Rolle.
Brennstoffzellen werden im Hinblick auf Wirkungsgrad und Lebensdauer immer in Kombination mit einem elektrochemischen Speicher (Batterie) eingesetzt werden, spielen aber vor 2030 in Bezug auf die Stückzahlen keine bedeutende Rolle. Kernherausforderungen betreffen die Wasserstoffspeicherung im Fahrzeug, die Kosten des Brennstoffzellenstacks sowie den Ausbau der Betankungsinfrastruktur.
Dennoch stellt die Stromerzeugung auf der Basis der Brennstoffzelle den idealen Range Extender für Elektrofahrzeuge dar, da die hohe Effizienz und Emissionsfreiheit sowie das niedrige Betriebsgeräusch perfekt zum Elektrofahrzeug passen. Die Anwendung als Range Extender ist auch deshalb so interessant, da sie sich nahezu nahtlos in die bis dahin wahrscheinlich fest etablierten Elektrofahrzeuge mit einem Verbrennungsmotorkonzept als Range Extender integrieren lässt. Der Einstieg in einer kleineren Leistungsklasse wird die Markteinführung der Brennstoffzellen-Technologie erleichtern.
9. In Städten werden Hybridantriebe und reine Elektroantriebe auch in Nutzfahrzeugen und Bussen eine zunehmende Verbreitung erlangen.
Im öffentlichen Personennahverkehr sowie im städtischen Verteilerverkehr werden Hybridantriebe und reine Elektroantriebe entsprechend der Weiterentwicklung der verkehrspolitischen Rahmenbedingungen eine zunehmende Verbreitung erlangen, da der elektrische Antrieb sowohl die Rekuperation nennenswerter Energiemengen ermöglicht als auch zu einer Reduktion der innerstädtischen Geräuschbelastung beiträgt. Während sich Kleinbusse in Verbindung mit einer Schnellladefähigkeit rein elektrisch darstellen lassen, bietet der serielle Hybridantrieb bei größeren Fahrzeugen signifikantes Potential zur lokalen CO2- und Geräuschreduktion.
10. Hybridantriebe bieten auch in vielen schweren Nutzfahrzeugen ein signifikantes Effizienzpotenzial.
Hybridantriebe bieten auch für viele schwere Nutzfahrzeuge ein signifikantes Effizienzpotenzial, welches von der Streckenart und -topographie sowie der verkehrsbedingten Häufigkeit von Geschwindigkeits-änderungen abhängt. Der Verbrennungsmotor wird die dominante Antriebsquelle bleiben. Neben Diesel könnten sich andere Kraftstoffe wie Methan etablieren, welche sich regenerativ leicht herstellen und transportieren lassen. Generell liegt der Fokus der aktuellen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit zu wenig auf den schweren Nutzfahrzeugen, welche mehr als 5 % der anthropogenen CO2-Emissionen in Europa verursachen.
11. Die Batterie entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Elektromobilität – die Kosten müssen drastisch reduziert und die Technologie kontinuierlich verbessert werden.
Die Entwicklung des Batteriepreises entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Elektromobilität. Insbesondere rein batterieelektrisch betriebene Fahrzeuge, aber auch Fahrzeuge mit Range Extender haben aufgrund ihrer Batteriegröße derzeit gegenüber konventionellen Fahrzeugen einen gravierenden Wettbewerbsnachteil: mit 30 bis 40 Prozent schränkt der hohe Anteil der Batteriekosten an den Gesamtfahrzeugkosten die Wettbewerbsfähigkeit dieser Antriebstechnologien ein.
Plug-In Hybridfahrzeuge benötigen Batterien, die gleichzeitig hohe Leistungen und hohe Energieinhalte bereitstellen können. Dies ist ein klassischer Zielkonflikt, der mit der bisherigen Zelltechnologie nur unzureichend aufgelöst wird. Die etwas in den Hintergrund getretene Super Cap Technologie bietet – ggf. in Kombination mit einem elektrochemischen Speicher – ein nennenswertes Potential, den Wirkungsgrad bei der Rückführung der Bremsenergie weiter zu steigern.
Die Situation erfordert weitere intensive und systematische Forschung sowohl auf der Zellebene als auch bei der Konfektionierung der einsatzfähigen Batterie. Auch die gerade anlaufenden Geschäftsmodelle der Batterievermietung müssen optimiert werden, hierzu gehören u.a. sinnvolle Konzepte für ein Second Life der ausgemusterten Fahrzeugbatterien, die in der Regel immer noch über 70 – 80 Prozent ihrer ursprünglichen Leistungsfähigkeit verfügen.
Die wissenschaftliche Gesellschaft für Kraftfahrzeug- und Motorentechnik e.V. (WKM) ist die Vereinigung von Professoren, die als Leiter von Fachgebieten und Lehrstühlen auf dem Gebiet der Kraftfahrzeug- und Motorentechnik an deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten tätig sind oder waren. Sie wurde 1997 gegründet und hat sich die Förderung von Wissenschaft und Forschung, wissenschaftlicher Lehre, Studium und Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Gebiet der Kraftfahrzeug- und Motorentechnik zum Ziel gesetzt. Ihr Vorsitzender und Leiter des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) der RWTH Aachen University, Professor Dr.-Ing. Lutz Eckstein, sieht das mittel- und langfristige Ziel der WKM darin, durch eine erstklassige und gezielte Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf den relevanten Zukunftsfeldern der Kraftfahrzeug- und Motorentechnik den Wirtschafts- und Wissenschaftsraum Europa im zunehmenden internationalen Wettbewerb nachhaltig zu stärken.
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Pressemitteilung des ika – Institut für Kraftfahrzeuge (RWTH Aachen University) vom 27. September 2012